
Die ganze türkische Nation bangt in diesen Stunden um die Opfer der verheerenden Erdbeben, die sich am 6. Februar in der Region Kahramanmaraş an der Grenze zu Syrien ereignet haben. Ersoy Sam (46) erlebt das Land in nie gekannter Aufruhr. „Hier herrscht ein wahnsinniges Durcheinander. In der Türkei ist nichts mehr, wie es war“, sagt der Hertener Rechtsanwalt, der in Istanbul als Unternehmensberater tätig ist.
Zwei Tage sind vergangen, seitdem die Naturkatastrophe über die Türkei und Syrien hereingebrochen ist. Und noch immer wird unter den Trümmern der Häuser nach Überlebenden gesucht. Doch die Hoffnung schwindet, nicht zuletzt angesichts eisiger Minusgrade.
Schon ist die Zahl der registrierten Todesopfer in der Türkei und in Syrien auf mehr als 11.000 gestiegen. Viele Menschen werden noch vermisst. „Doch das Leid ist noch viel größer“, sagt Ersoy Sam. Die Zahl der Verletzten wird jetzt auf über 40.000 geschätzt. Mehr als 200.000 Personen sind obdachlos. „Jeder hier hat Verwandte in der Katastrophenregion. Das Leid betrifft alle, auch wenn von den Erdbeben in Istanbul nichts zu spüren war.“ Zwischen der Metropole am Bosporus und der Provinz Kahramanmaraş liegen rund tausend Kilometer Fahrstrecke.

Nach Erdbeben: Hotels in Antaya und Alanya bieten 50.000 Betten an
„In Istanbul sind noch kaum Menschen aus der Erdbebenregion angekommen“, sagt der Rechtsanwalt. Die Betroffenen harren lieber vor Ort aus in der Hoffnung, noch lebende Familienangehörige zu finden. Untergebracht sind sie in städtischen Gebäuden, die als Notunterkünfte dienen. Hotels in Ferienorten wie Antalya und Alanya haben bereits Hilfe angeboten. „50.000 Betten stehen dort bereit“, erzählt Ersoy Sam. Überhaupt sei die Hilfsbereitschaft im In- und Ausland überwältigend. „Die Dankbarkeit der Leute hier ist riesengroß.“
Erdbeben in der Türkei: Fluch oder Segen für Präsident Erdogan
Seit dem Tag des schrecklichen Ereignisses werde von „politisch Spitzfindigen“, so Sam, die Schuldfrage gestellt. „Das ist hier in der Türkei nicht anders als in Deutschland. Zum Beispiel bei der Flutkatastrophe, die Gerhard Schröder zum Wahlsieg verhalf.“ SPD-Kandidat Schröder hatte dank des Elbe-Hochwassers vor 21 Jahren mit Gummistiefeln und Macher-Pose sein Image als Krisenkanzler manifestiert und Herausforderer Edmund Stoiber (CDU) bei der Bundestagswahl in die Schranken gewiesen.
Das große Erdbeben 1999, als in und um Gölcük über 18.000 Menschen starben, hatte dem türkischen Präsidenten Erdoğan und seiner Partei AKP indirekt zur Macht verholfen. Ob sein Krisenmanagement ihm auch bei der bevorstehenden Wahl im Mai zum Vorteil gereicht? „Das Erdbeben kann für Erdoğan Fluch oder Segen sein – je nachdem, wie er diese Krise meistert“, glaubt Ersoy Sam.

Hertener Anwalt: Baurecht wird in der Türkei nicht konsequent umgesetzt
Die große Frage ist: Hat die türkische Regierung ausreichend in die Erdbebenvorsorge investiert? Wie kann es sein, dass in einer Hochhausreihe manche Bauten stehenbleiben, während andere wie Kartenhäuser zusammenbrechen? Wurden die Bauvorschriften nicht eingehalten, oder minderwertige Baumaterialien verwendet? „Fakt ist, dass wir in der Türkei ein ordentliches Baurecht haben“, sagt der Anwalt. „Es wird nur leider nicht konsequent umgesetzt. Immer wieder werden Schwarzbauten errichtet und nachträglich genehmigt, obwohl sie nicht den Vorschriften entsprechen.“
In der Unternehmensberatung Sam und Partner ist es seit den Erdbeben am Montag sehr still geworden. Ersoy Sam berät Investoren, die sich in Deutschland niederlassen wollen – zuletzt einen Möbel-Hersteller, der in der Bundesrepublik eine Firma gekauft hat. „Sowas erfordert lange Gespräche und konzentriertes Arbeiten. Das ist bei der momentanen Stimmungslage völlig unmöglich.“
Spendenkonto:
Gemeinschaftskonto Bündnis Entwicklung Hilft (BEH) & Aktion Deutschland Hilft (ADH), IBAN: DE53 200 400 600 200 400 600, Stichwort: Erdbeben Türkei & Syrien
Infos: www.spendenkonto-nothilfe.de
Eine deutsch-türkische Karriere
- Ersoy Sam wurde 1976 in Recklinghausen geboren. Sein Vater Mehmet (er starb 2020 als Opfer der Corona-Pandemie) war 1973 nach Deutschland gekommen, fand Arbeit auf der Zeche Ewald, dann auf dem Bergwerk Westerholt. 1975 zog Ehefrau Emine nach.
- Ersoy Sam und seine zwei Jahre ältere Schwester Aysungül wuchsen auf der Otto-Lenz-Straße auf. Seinem Vater blieb Bildung daheim in der Türkei verwehrt, er musste früh arbeiten. Und so animierte er seine Kinder stets zum Lernen, ebenso die Mutter, die sehr belesen war.
- Nach der städtischen Realschule wechselte Ersoy Sam ans Freiherr-vom-Stein-Gymnasium Recklinghausen und machte 1995 Abitur. Er studierte in Bochum Jura und heiratete mit 24 Jahren die gleichaltrige Pädagogin Bedia Sam, mit der er zwei Kinder hat. Er machte sich mit 26 Jahren als Anwalt selbstständig, berät heute Unternehmen und Investoren in der Türkei.
- Schon als Kind half Ersoy Sam im VIKZ-Moscheeverein im Sekretariat. Mit 14 Jahren begleitete er Gemeindemitglieder als Dolmetscher zu Gerichtsverhandlungen. Noch als Schüler wurde er mit 18 Jahren Vorsitzender des Hertener Ausländerbeirats. Er engagierte sich bundesweit im Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ) als Referent für Öffentlichkeitsarbeit und war Motor des Baus der „Blauen Moschee“ am Paschenberg.