Jugendamt betreut immer mehr Kinder in Oer-Erkenschwick Junikum-Chef Thomas Kurth kennt die Gründe

Redakteur Ostvest
Thomas Kurth (58), der Geschäftsführer der Kinder- und Jugendeinrichtung Junikum mit Sitz in Oer-Erkenschwick.
Thomas Kurth (58) ist Geschäftsführer der Kinder- und Jugendeinrichtung Junikum mit Sitz in Oer-Erkenschwick. Er sagt: „Wir können uns derzeit vor Betreuungsanfragen kaum retten.“ © Jörg Müller
Lesezeit

In der Kinder- und Jugendeinrichtung Junikum mit Sitz in Oer-Erkenschwick betreuen täglich 208 Mitarbeiter 128 Kinder und Jugendliche im Alter von drei bis 22 Jahren. „Und es könnten noch wesentlich mehr sein“, sagt Geschäftsführer Thomas Kurth (58). Denn erst kurz vor Weihnachten erreichten das Junikum täglich gut 20 Betreuungsanfragen von 42 Jugendämtern aus Nah und Fern.

„Als ich hier vor rund dreieinhalb Jahrzehnten meine Berufslaufbahn begonnen hatte, waren im damaligen Kinderheim St. Agnes 27 junge Menschen untergebracht. Allein an diese Zahl verdeutlicht, wie stark der Bedarf an Betreuungsplätzen gestiegen ist“, sagt Kurth.

Doch woran liegt das? „Rund zwei Drittel der Nachfragen drehen sich um die Betreuung von jugendlichen Flüchtlingen, die ohne ihre Eltern ihr Heimatland verlassen haben“, sagt Thomas Kurth. Aber, so macht es der pädagogische Leiter der Kinder- und Jugendeinrichtung Junikum, Markus Hansen (43) deutlich: „Die Zahl der sogenannten Gefährdungseinschätzungen, also die Zahl der Fälle, in denen Mitarbeiter des Jugendamtes Gefahren für die Kinder in einer Familie feststellen, steigt auch um etwa zehn Prozent von Jahr zu Jahr.“

Unterstützer in der Nachbarschaft fallen weg

Während die steigende Flüchtlingszahl durch den Krieg nicht nur in der Ukraine zu erklären ist, gibt die deutlich zunehmende Menge der Kinder und Jugendlichen, für die Jugendamtsmitarbeiter in den jeweiligen Familien Risiken erkannt haben, zunächst Rätsel auf. Thomas Kurth klärt auf: „Die Gründe sind vielfältig. Aber eine wesentliche Ursache ist, dass die früher helfenden Unterstützer im größeren Familienkreis oder in der Nachbarschaft weggefallen sind. Die bei der Kinderbetreuung helfende Tante oder die mit betreuende Nachbarin gibt es heute in vielen Fällen nicht mehr, weil der Zusammenhalt in der Gesellschaft aufgrund der fortschreitenden Individualisierung nachgelassen hat. Und: Nicht wenige überforderte Eltern haben früher als Kinder selbst Erfahrungen mit staatlicher Jugendhilfe gemacht.“

Markus Hansen ist der pädagogische Leiter der Kinder- und Jugendeinrichtung Junikum mit Sitz in Oer-Erkenschwick.
Markus Hansen ist der pädagogische Leiter der Kinder- und Jugendeinrichtung Junikum mit Sitz in Oer-Erkenschwick. Er wünscht sich im Sinne der Kinder eine Reform des Schulwesens und bessere Betreuung für Familien. © Jörg Müller

Markus Hansen ist der pädagogische Leiter der Kinder- und Jugendeinrichtung Junikum mit Sitz in Oer-Erkenschwick. Er wünscht sich im Sinne der Kinder eine Reform des Schulwesens und bessere Betreuung für Familien. „Wir brauchen schlicht und ergreifend mehr Hilfsangebote für junge Familien. Und zwar schon weit vor der sozialpädagogischen Familienhilfe des Jugendamtes.“

Hansen fordert auch von der Politik mehr Engagement: „Auch die Jugendhilfe leidet unter Fachkräftemangel. Würde die Politik auch Ausbildungsinitiativen der stationären Jugendhilfe fördern, könnten wir auch mehr Ausbildungsplätze anbieten. Aber der Jugendhilfe fehlt die Lobby“, bedauert Markus Hansen.

Thomas Kurth ergänzt: „Dass sich die Gesellschaft mehr für Geld als für die Jugendhilfe interessiert, zeigt sich auch an Folgendem: Der Stundensatz eines Wirtschaftsprüfers liegt bei rund 240 Euro. Und wir müssen uns schon für 80 Euro für einen Sozialpädagogen rechtfertigen.“