Millionen Arbeitslose, aber Firmen finden keine Leute: Was ist da los?

Redakteur
Zwei Personen stehen mit Masken vor der Agentur für Arbeit in Berlin Mitte. 
Firmen und Behörden, überall werden Arbeitskräfte gesucht. Trotzdem sind noch 2,5 Millionen Arbeitslose gemeldet. Wie kann das sein? © picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild
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In Deutschland herrscht ein eklatanter Mangel an Arbeitskräften, und zwar in nahezu allen Bereichen. Egal ob in der Pflege, in Kitas, im Handwerk, Handel oder in der Gastronomie, überall werden händeringend Mitarbeiter gesucht.

Selbst in akademischen Berufen – etwa bei Ärzten, Lehrern und in der Justiz – fehlen Menschen. Gleichzeitig sind noch immer 2,5 Millionen Menschen arbeitslos gemeldet. Das stellt sich die Frage: Wer ist denn jetzt noch arbeitslos?

Angesichts der wirtschaftlichen Lage scheint es doch, als könne jeder, der das wolle, auch einen Arbeitsplatz finden. Warum geschieht das nicht? Sind die Menschen, die jetzt keinen Job haben, Drückeberger? Erhalten sie so viel Geld, dass sich das Arbeiten gar nicht lohnt?

Müsste mehr Druck auf Arbeitslose ausgeübt werden? Was macht eigentlich die Agentur für Arbeit? Seit 2015 hat sich die Zahl Arbeitslosen fast halbiert, die Zahl der Mitarbeiter aber ist gestiegen. Wie kann das sein? Viele Fragen, die wir der Agentur für Arbeit in Nürnberg gestellt haben. In diesem Stück gibt es Antworten.

Warum haben wir noch immer 2,5 Millionen Arbeitslose?

Bei der Antwort auf diese zentrale Frage verweist die Bundesagentur für Arbeit zunächst auf die positive Entwicklung des Arbeitsmarkts. So sei die Arbeitslosenzahl im Vergleich zum Vorjahr deutlich zurückgegangen. Eine Arbeitslosenquote von 5,4 Prozent bedeute ein niedriges Niveau und sei deutlich besser als der Durchschnitt in der Eurozone.

Auch bei der Zahl der Langzeitarbeitslosen – also der Menschen, die ein Jahr oder länger arbeitslos sind, gebe es Fortschritte. Allerdings gebe es noch immer etwa 193.000 Langzeitarbeitslose und damit 27 Prozent mehr als vor der Corona-Krise.

Trotz allem könne es auch in Zeiten hoher Arbeitskräftenachfrage eine relativ hohe Arbeitslosigkeit geben, denn: „Arbeitgeber suchen überwiegend qualifizierte Fachkräfte, die arbeitslose Menschen nicht immer ohne Weiteres vorweisen können. Es können weitere mitunter auch persönliche Merkmale hinzukommen, die eine schnelle Integration in den Arbeitsmarkt potenziell erschweren“, schreibt die Bundesagentur.
Auf diese Frage antwortet die Bundesagentur diplomatisch: „Der Arbeitsmarkt entwickelt sich grundsätzlich zunehmend zu einem Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmermarkt. Es gibt in der aktuellen Situation am Arbeitsmarkt für arbeitssuchende Menschen gute Chancen, ein Beschäftigungsverhältnis entsprechend ihren Qualifikationen zu finden“, schreibt die Bundesagentur und ergänzt: „Unter anderem können aber auch in einer solchen für Bewerberinnen und Bewerber grundsätzlich günstigen Situation Merkmale oder Umstände eine schnelle Integration in den Arbeitsmarkt verzögern oder erschweren.“

Findet nicht jeder, der will, auch einen Arbeitsplatz?

Wer hat eigentlich Anspruch auf Arbeitslosengeld?

Voraussetzung für den Bezug von Arbeitslosengeld ist, dass jemand in den 30 Monaten vor der Arbeitslosmeldung insgesamt mindestens 12 Monate in der Arbeitslosenversicherung versichert war.

Wie hoch ist das Arbeitslosengeld?

Die Höhe des Arbeitslosengeldes hängt von diversen Faktoren ab. Vereinfacht gesagt dient der beitragspflichtige Anteil des Brutto-Arbeitslohns beziehungsweise des Brutto-Gehalts der vergangenen 12 Monate als Grundlage für die Berechnung. Dieser Betrag wird durch 365 geteilt. So erhält man das Brutto-Gehalt pro Tag.

Von dieser Summe werden rein rechnerisch die Lohnsteuer und ein Pauschalbetrag für die Sozialversicherung in Höhe von 20 Prozent abgezogen. Das Ergebnis ist das Netto-Entgelt pro Tag. Im Fachjargon heißt das „Leistungsentgelt“. Von diesem Betrag erhält man 60 Prozent als Arbeitslosengeld. Sofern der Betroffene oder sein Ehe- oder Lebenspartner ein Kind hat, erhöht sich der Betrag auf 67 Prozent.

Wie lange bekommt man Arbeitslosengeld?

Das hängt vom Alter ab. Wer jünger als 50 Jahre ist, kann maximal 12 Monate Arbeitslosengeld beziehen – wenn er oder sie zuvor mindestens 24 Monate in die Arbeitslosenkasse eingezahlt hat.

Für Menschen über 50 erhöht sich der Anspruch auf Arbeitslosengeld schrittweise auf bis zu 24 Monate. Diese maximale Bezugsdauer steht Arbeitslosen ab 58 Jahren zu – vorausgesetzt, sie waren zuvor 48 Monate oder länger versicherungspflichtig.

Was erhalten Arbeitslose, wenn das Arbeitslosengeld ausgelaufen ist?

Dann schließt sich das Arbeitslosengeld 2 an. Das entspricht in seiner Höhe und in seinen Bedingungen Hartz IV beziehungsweise der Grundsicherung. Anders als beim Arbeitslosengeld 1 wird dabei auch das Vermögen der Betroffenen berücksichtigt und herangezogen.

Wie viele Menschen beziehen Arbeitslosengeld, wie viele erhalten die Grundsicherung?

Mit Stand August 2022 haben 768.233 Menschen in Deutschland grundsätzlich einen Anspruch auf Arbeitslosengeld. 24.785 von ihnen beziehen aktuell aber dieses Arbeitslosengeld nicht, da eine Sperrzeit verhängt wurde – das passiert beispielsweise, wenn man eine Stelle selbst kündigt oder eine zumutbare Stelle abgelehnt hat. 284.443 von ihnen oder 37 Prozent sind 55 Jahre und älter.

Im Schnitt erhält jeder und jede dieser Leistungsempfänger Arbeitslosengeld in Höhe von 1.922,03 Euro pro Monat – inklusive der Sozialversicherungsbeiträge.

Knapp 1,5 Millionen Arbeitslose beziehen aktuell Arbeitslosengeld 2, was der Grundsicherung beziehungsweise Hartz IV entspricht. Der Regelsatz für einen Alleinstehenden beträgt seit 1. Januar 2022 449 Euro. Dazu kommen weitere Hilfen wie beispielsweise Wohngeld.

Wie steht es um die Qualifikation der arbeitslosen Menschen?

„Der überwiegende Teil der arbeitslosen Menschen in Deutschland hat keine Qualifikation, die den Anforderungen der meisten Stellengesuche genügt: Diese Menschen suchen eine Tätigkeit im Segment für Helfertätigkeiten, der Großteil der gemeldeten Arbeitsstellen richtet sich aber an qualifizierte Fachkräfte“, analysiert die Bundesagentur und wird dann konkret: Arbeitslose Menschen hätten in mehr als der Hälfte der Fälle keine abgeschlossene Berufsausbildung.

Bei den Menschen ohne abgeschlossene Berufsausbildung lag die Arbeitslosenquote beispielsweise 2021 bundesweit bei 20,6 Prozent. Bei Menschen mit abgeschlossener Ausbildung lag sie dagegen nur bei 3,2 Prozent, insgesamt bei 5,7 Prozent.

Was unternimmt die Bundesagentur für Arbeit, um die Quote der Menschen mit qualifizierter Berufsausbildung zu steigern?

Es gibt diverse Aus- und Fortbildungsprogramme und Fördermöglichkeiten für Weiterqualifikationen, sofern die einen Arbeitsplatz absichern könnten. Die Bundesagentur verweist etwa auf die Initiative „Zukunftsstarter“. Damit biete man Menschen von 25 bis 35 Jahren gute Bedingungen für einen Berufsabschluss im zweiten Anlauf.

Was genau tut die Bundesagentur, damit Langzeitarbeitslose wieder eine Arbeit finden?

Hier verweist die Bundesagentur auf das „Teilhabechancen-Gesetz“. Es richtet sich an Menschen, die schon lange Leistungen der Grundsicherung beziehen beziehungsweise lange arbeitslos sind. Dabei habe sich das sogenannte Instrument „§ 16i SGB II“ als wichtiger Baustein „sehr gut etabliert“.

Das bedeutet konkret: Ein Arbeitgeber bekommt in den ersten fünf Jahren von der Bundesagentur die Lohnkosten ganz oder teilweise ersetzt: in den ersten beiden Jahren zu 100 Prozent, im dritten zu 90 Prozent, im vierten zu 80 Prozent und im fünften zu 70 Prozent. Unterstützt werde eine solche Maßnahme durch ein „ganzheitliches beschäftigungsbegleitendes Coaching“, so die Bundesagentur.

Was sind die größten Hindernisse, um Menschen wieder in Arbeit zu bringen?

Neben einer fehlenden Ausbildung gibt es weitere Faktoren, auf die die Bundesagentur nach eigenen Angaben mit entsprechenden Ansätzen reagiere. So gebe es beispielsweise spezielle Beratungsteams für Alleinerziehende. Beauftragte für Chancengleichheit am Arbeitsmarkt unterstützten die Berufsrückkehr nach einer Elternzeit oder der Pflege Angehöriger. Es gebe in Arbeitsagenturen Teams für die Rehabilitation und Teilhabe am Arbeitsmarkt, sowie den Berufspsychologischen Service und den Ärztlichen Dienst.

Gibt es Sanktionen für Arbeitslose durch die Bundesagentur für Arbeit?

Im Durchschnitt des Jahres 2021 mussten 34.589 Menschen monatliche Kürzungen der Leistungen der Bundesagentur für Arbeit hinnehmen. Im Schnitt betrug die Kürzung dabei 14,9 Prozent oder 94 Euro. Im Mai 2022, dem jüngsten Monat, für den die Daten vorliegen, betraf die Kürzung 44.214 Menschen.

All diese Werte liegen deutlich unter den Kürzungszahlen früherer Jahre. So lag die Zahl der Kürzungen noch im Jahresdurchschnitt 2019 bei 120.899 Fällen.

Hauptgründe für das Verhängen einer Sanktion waren 2021 Meldeversäumnisse beim Träger einer Maßnahme (51,9 Prozent), die Weigerung eines Arbeitslosen, eine Arbeit, Ausbildung oder Fortbildung aufzunehmen beziehungsweise fortzusetzen (26,9 Prozent) und Verstöße gegen die mit der Arbeitsagentur getroffenen Verabredungen, die als Eingliederungsvereinbarungen bezeichnet werden (10,8 Prozent).

Was hat es mit dem Sanktionsmoratorium auf sich?

Im Mai hat der Bundestag ein sogenanntes befristetes Sanktionsmoratorium beschlossen. Das bedeutet, dass es zunächst einmal prinzipiell ab dem 1. Juli ein Jahr lang keine Leistungskürzungen bei Pflichtverletzungen wie beispielsweise der Ablehnung eines Arbeitsangebots oder Abbruch einer Weiterbildungsmaßnahme gibt.

Meldeversäumnisse wie beispielsweise das Nichterscheinen bei einem Beratungstermin im Jobcenter, können bei Wiederholung allerdings weiterhin Leistungsminderungen nach sich ziehen. Die Kürzungen bei mehrfachen Meldeversäumnissen sind auf zehn Prozent begrenzt.

Wie wird kontrolliert, ob ein Arbeitsloser seine Pflichten erfüllt?

Arbeitslose haben die Pflicht, sich selbstständig um einen Arbeitsplatz zu bemühen. Wie aber wird das kontrolliert? Hierzu verweist die Bundesagentur für Arbeit auf die persönlichen Gespräche zwischen den Arbeitslosen und den Vermittlern der Arbeitsagentur. Hier würden konkrete Aktivitäten abgesprochen und in einer Eingliederungsvereinbarung festgehalten.

Bei weiteren Terminen würden kontinuierlich die Fortschritte in den vereinbarten Aktivitäten besprochen und das weitere Vorgehen werde angepasst. Dieser Austausch könne auch per Post, Mail oder App erfolgen.

Arbeitslose müssen eine zumutbare Arbeit annehmen, was aber ist zumutbar?

Zu dieser Frage gibt es klare Regeln im Sozialgesetzbuch. Unzumutbar ist eine Arbeit nur in eng begrenzten Fällen. Das ist beispielsweise der Fall, wenn jemand körperlich, geistig oder seelisch nicht in der Lage ist, eine bestimmte Arbeit aufzunehmen. Oder weil er sich um die Erziehung eines Kindes unter drei Jahren oder um die Pflege eines Angehörigen kümmern muss.

Unzumutbar ist eine Arbeit aber definitiv nicht allein deswegen, weil sie beispielsweise nicht einer früheren Tätigkeit in einem erlernten Beruf entspricht oder sie mit Geringschätzung betrachtet wird. Auch ein längerer Weg zur Arbeit oder ungünstigere Arbeitsbedingungen als bei einer früheren Stelle sind kein Grund, ein Arbeitsangebot abzulehnen.

Warum müssen Arbeitslose immer persönlich erreichbar sein, warum reicht eine Erreichbarkeit per E-Mail nicht aus?

„Allein eine Kommunikation in E-Mails ersetzt das persönliche Beratungsgespräch in den allermeisten Fällen nicht“, antwortet die Bundesagentur auf diese Frage und ergänzt dann: „In einer Phase der Arbeitslosigkeit etwa hat ein persönliches Gespräch in Hinsicht auf nachfolgende Bewerbungen, geeignete Qualifizierungen und Vermittlungsbemühungen einen großen Stellenwert. Es ist Grundlage für einen vertrauensvollen Austausch und unterstützt eine individuelle Begleitung arbeitsloser Menschen in den Beruf. Es ist in vielen Fällen der Schlüssel für eine beruflich nachhaltige Integration.“

Zudem dürften personenbezogene Daten aus Datenschutzgründen nicht per E-Mail ausgetauscht werden. Im Übrigen könne man eine Zeit der Abwesenheit der Arbeitsagentur formlos anzeigen.

Warum beschäftigt die Bundesagentur so viele Menschen, obwohl die Arbeitslosigkeit niedrig ist?

2005 gab es in Deutschland im Jahresdurchschnitt 4,86 Millionen Arbeitslose. Im selben Jahr hatte die Bundesagentur für Arbeit 90.645 Mitarbeiter. 2021 betrug die durchschnittliche Arbeitslosigkeit in Deutschland 2,61 Millionen Menschen (also 46,3 Prozent weniger als 2005), die Zahl der Beschäftigten in der Bundesagentur für Arbeit dagegen stieg auf 101.000 Mitarbeiter, ein Plus von 11,4 Prozent.

Wie lässt sich dieser Zwiespalt erklären? Was machen die Menschen in der Bundesagentur, wenn Sie nur noch für halb so viele Menschen zuständig sind? Warum ist die Zahl der Beschäftigten in der Bundesagentur für Arbeit nicht parallel zum Rückgang der Arbeitslosigkeit ebenfalls deutlich reduziert worden und wächst stattdessen weiter?

Auf diese Fragen antwortet die Bundesagentur für Arbeit ausweichend mit einer Auflistung aller ihrer Aufgaben, angefangen von der Berufsberatung in allen Formen, die Bearbeitung von Kurzarbeitergeld, die Integration von Flüchtlingen auf dem Arbeitsmarkt sowie die Qualifizierung und Rehabilitation von Betroffenen.

Zudem kümmere sich die Agentur um die Beratung junger Menschen in der beruflichen Orientierung und unterstütze diese beim Übergang von der Schule in den Beruf.

Ferner setze die Berufsagentur „zunehmend Konzepte um, die geeignet sind, um das Erwerbspersonenpotential zu steigern beziehungsweise auf einem möglichst hohem Niveau zu halten und reagiert damit auf vielfältige Herausforderungen im demografischen und technologischen Wandel und im Übergang zu einer nachhaltigen Wirtschaft.“

Eine Erklärung, warum für diese Aufgaben, die auch schon 2005 so oder so ähnlich wahrgenommen wurden, bei signifikant weniger Klienten dennoch mehr Beschäftigte erforderlich sind, liefert die Bundesagentur allerdings nicht.